Auf meine Frage nach seiner Familie antwortete er mir mit einer Stimme, die seine positive Zuversicht, die er bisher ausstrahlte, verschwinden ließ:
„An meinen Vater kann ich mich kaum noch erinnern. Meine Eltern haben sich vor ca. 10 Jahren scheiden lassen.“
„Wie kam es dazu?“
„Soweit ich weiß, hat mein Vater meine Mutter geschlagen, er hatte wohl Alkoholprobleme und konnte auch mit dem Geld nicht so richtig umgehen. Wir haben seit ewigen Zeiten nichts mehr von ihm gehört oder gesehen.“
„Und Deine Mutter hat Euch alleine großgezogen?“
„Ja, das hat sie!“ Und ich spürte, dass sich seine Ausstrahlung wieder zum Positiven änderte, er war auf einmal wieder stolz und voller Zuversicht. „... und sie hatte es nicht leicht!“
Mein Mitgefühl hatte die Familie: „Das kann ich mir vorstellen!“
„Es war noch viel schwieriger als Sie es sich vorstellen können! Meine Mutter ist von Geburt an behindert. Sie kann nur sehr schlecht sehen und hat ein großes Problem mit ihrem rechten Bein, das deutlich kürzer ist als das linke, und an dem bestimmte Muskeln nicht angelegt sind.“
Eine behinderte Mutter bringt vier Söhne groß, aus denen allen etwas geworden ist, und das in Südafrika, wo es sehr viel weniger soziale Absicherung gibt, als bei uns in Deutschland. Ich war fasziniert und wollte mehr wissen.
„Kann ich Deine Mutter kennen lernen?“
„Natürlich, hier gebe ich Ihnen ihre Telefonnummer!“
„Ich bin Psychologe und beschäftige mich mit den Faktoren, die erfolgreich machen.“
Schon bei dem ersten Telefonat mit ihr, war ich von der Persönlichkeit dieser Frau beeindruckt.
„Einer Ihrer Söhne hat mir von Ihnen erzählt und ich würde Sie gerne kennen lernen. Ich bin Psychologe und beschäftige mich mit den Faktoren, die erfolgreich machen.“
„Ich denke nicht, dass ich sehr erfolgreich bin, aber wenn Sie wollen treffe ich mich gerne mit Ihnen.“
„Am nächsten Dienstagabend?“ fragte ich.
„Da geht es leider nicht. Da habe ich Vorlesung. Ich studiere Psychologie im Abendstudium.“
Eine behinderte Frau, die geschätzt Mitte 40 sein musste, macht eine Fortbildung! Ich war beeindruckt. Wir verabredeten uns also für Mittwoch.
Ich war voller Erwartung sie kennen zu lernen. „Kann ich Sie irgendwo abholen?“
„Das ist nicht nötig, ich komme in Ihr Hotel. Ich arrangiere das schon irgendwie! Also dann bis Mittwoch!“
Habe ich wirklich mit einer behinderten Frau gesprochen, die nur schwer gehen kann, geschweige denn Radfahren oder Autofahren, so fragte ich mich.
Wir trafen uns also in der Hotellobby. Eine kleine, unscheinbare Frau, die sehr stark hinkte und der man ansah, dass sie durch ihre Augenprobleme Schwierigkeiten mit der Orientierung hatte. Trotzdem erschien sie mir in keiner Weise unsicher. Sie hatte eine besondere Ausstrahlung, durch die sie sich von all den Menschen in dieser großen Hotelhalle unterschied – oder kam es mir nur so vor?
Ich machte mich bekannt und wir gingen in ein Restaurant.
„Warum wollten Sie mich treffen?“ begann sie die Unterhaltung.
„Sie sind in meinen Augen wahrscheinlich der erfolgreichste Mensch in diesem großen Restaurant, ich möchte wissen, wie Sie so geworden sind, wie sie es geschafft haben, Ihre vielen Kinder alleine und trotz der Behinderungen in einem Land wie Südafrika zu so erfolgreichen jungen Menschen zu erziehen.“
„Ich denke, sie wollen mir nur schmeicheln. Ich habe einfach immer nur getan, was notwendig war.“
„Viele andere würden das, was Sie getan haben nicht schaffen, sie würden es gar nicht von sich erwarten, es gar nicht versuchen. Was unterscheidet Sie von den anderen? Warum haben Sie sich trotz all der offensichtlichen äußeren Schwierigkeiten nicht unterkriegen lassen?“
Zuerst wusste sie mit der Frage nichts anzufangen. Sie hatte nicht das Gefühl etwas Besonderes geleistet zu haben. Nachdem ich ihr aber meine Sichtweise deutlich gemacht hatte, rückte sie doch mit einer wunderbaren Geschichte heraus:
„Es gibt da ein Erlebnis aus früher Kindheit, an das ich noch heute oft denken muss. Ich war drei Jahre alt. Ich kann das genau rekonstruieren. Ich war bei meiner Großmutter. Ich wollte aus irgendeinem Grund aus dem Zimmer gehen und konnte die Tür nicht öffnen, da ich nicht groß genug war, die Klinke zu erreichen. Ich bat sie: ‚Bitte Oma, öffne die Tür für mich, ich kann sie nicht öffnen!’ Die Antwort meiner Oma war auf den ersten Blick herzlos:
‚Merke dir das: ‚Ich kann nicht’ gibt es nicht!’“
„Merke dir das: ‚Ich kann nicht’ gibt es nicht!“