Lesen Sie noch den politischen Teil der Zeitung?
Ich gestehe, ich lese den politischen Teil meiner Zeitung immer seltener, vermeide immer öfter die Tagesschau oder andere Nachrichten!
Sie, liebe Leserin und lieber Leser haben lange nichts mehr von mir gehört. Mir fehlte der Antrieb, mir fehlte die Inspiration. Wie soll man auch inspiriert sein, wenn man nur noch von negativen Nachrichten und Vorstellungen umgeben ist? Geht es Ihnen auch so, dass Sie bei Gesprächen mit Freunden und Bekannten immer wieder auf die politische Entwicklung kommen und dann das Gespräch jedes Mal in einer depressiven Stimmung endet: da können wir nichts machen, wir können nur hoffen, dass es nicht so schlimm wird, obwohl wir keine Argumente haben, dass es besser kommen könnte, als wir befürchten.
Um Ihnen nur einen kleinen Einblick in meine Sorgen zu geben, zähle ich hier die wichtigsten Krisen auf, die immer wieder notgedrungen in meinem Kopf auftauchen:
- Der Ukraine-Krieg lässt wohl keinen kalt, der sich ein wenig Empathie bewahrt hat. Die Vorstellung, dass die eigenen Kinder auf dem Spielplatz jederzeit von einer russischen Rakete zerfetzt werden könnten, ist schrecklich.
- Die Tendenzen der deutschen Politik kein innerdeutsches Problem wirklich wirksam anzupacken: eine Bundeswehr, die „nicht kriegstauglich“ ist; ein marodes Schienensystem; wirtschaftliches Schlusslicht in Europa zu sein; Halbherzigkeiten bei der Bekämpfung des Klimawandels; ein dauerndes Lavieren zwischen Notwendigkeiten und den Wünschen der Wähler mit entsprechend „faulen“ Kompromissen; oder, um von den nicht regierenden Parteien zu sprechen: die Tendenz zu Extremen, die einfache Lösungen versprechen (als ob man den Frieden in der Ukraine wählen kann, indem man sich für eine bestimmte deutsche Partei entscheidet!!!).
- Der Krieg in Palästina, mit einem für mich persönlich schwierigem Konflikt: wenn wir doch so extreme Schuld hinsichtlich der Judenverfolgung auf uns geladen haben, darf ich dann das Vorgehen der israelischen Politik kritisieren?
- Was passiert in den USA, was passiert mit der Nato, wenn Donald Trump im November gewählt wird? Wird er die Ukraine hängen lassen? Wird er als unberechenbarer Politiker Konflikte eskalieren lassen?
- Wie sollen wir uns hinsichtlich des Klimawandels positionieren? Ein Problem, das man bei all den anderen Konflikten manchmal – so scheint es – ganz aus den Augen zu verlieren scheinen, das sich aber immer wieder durch Klimaextreme in Erinnerung bringt!
Da soll man sich noch mit den aktuellen Entwicklungen, mit Politik beschäftigen? Also am Morgen kommt das für mich nicht in Frage, dann ist doch der ganze Tag gelaufen, und am Abend, vor dem Schlafengehen sowieso nicht, das verursacht nur schlechte Träume oder die Gefahr, dass man wegen der „schlechten“ (sprich: angstmachenden) Gedanken nicht wieder einschlafen kann, wenn man einmal in der Nacht aufgewacht ist. Und tagsüber doch auch nicht, dann kann man sich nicht mehr auf die „eigentliche“ Arbeit konzentrieren.
Aber kann man, darf man sich denn völlig aus dem Weltgeschehen zurückziehen? Ich kann es nicht, nicht nur weil ich neugierig bin, oder weil ich mitreden möchte, auch aus beruflichen Gründen: als Coach muss ich doch eine Antwort auf die Probleme meiner Klienten haben, die direkt oder indirekt auch unter der Situation leiden, in der wir gerade stecken.
Aber das bedeutet, dass ich für mich und für die, die bei mir Hilfe suchen, eine Antwort finden muss. Gibt es denn die? Gibt es eine Lösung all der Konflikte, die ich oben angedeutet habe und die nur eine Auswahl darstellen. (Nicht erwähnt habe ich: Bedrohung durch China, durch den wachsenden Einfluss der Mafia, des Drogenhandels, das Artensterben, das Vermüllen unseres Planeten mit Plastik usw.)?
Für die meisten hier erwähnten Krisen und Probleme kann ich mir keine „Lösung“ vorstellen und ich bin froh, dass ich nicht in der Verantwortung stehe, eine solche Lösung anbieten zu müssen.
Aber es geht doch auch um uns als Personen, konkret geht es auch um mich und um meine Klienten. Ich muss etwas finden, was uns Individuen hilft, die wir nicht (oder kaum) etwas dazu beitragen können, dass die Probleme gelöst werden, die aber eine Verantwortung für die eigene Psyche haben, die durch all die Probleme auch belastet wird und dafür, wie wir anderen helfen können, mit all dem klar zu kommen.
Wegschauen, wie ich es teilweise selbst praktiziere, ist nur eine momentane Lösung. Natürlich sollten wir die negativen Nachrichten, die täglich auf uns einprasseln, fein dosieren – aber völlig ausklammern können wir sie wohl nicht. Wir können natürlich auch einen Feind für all die alle oder die meisten dieser Probleme identifizieren, und unseren Hass auf diesen Feind lenken: die USA, oder die Regierung(en), der Kapitalismus, die Juden, die Islamisten usw. Das hilft auch gegen die Angst, die durch die Probleme entsteht, denn die (wenn auch nur mentale) Aggression auf den „Gegner“ entlastet uns psychisch! Hinzu kommt, dass unsere Angst und die daraus entstehende Aggression die eigene Wahrnehmung einengt und wir daher die Absurdität einfacher Erklärungsversuche der Situation nicht erkennen. Aber aus Erfahrung wissen wir: Angst und Aggression führt nie zu einer realistischen, akzeptablen Lösung von Problemen.
Da ist es doch besser, sich auf die „geheimen Kräfte der Seele“ zu verlassen. Als „Oldtimer“, der 1940 geboren, den Krieg und seine Auswirkungen noch in Erinnerung hat und der auch eine Reihe von persönlichen Katastrophen zu überstehen hatte, habe ich erfahren, welche phantastischen psychischen Kräfte in uns schlummern, die dann in Aktion treten, wenn es notwendig ist.
Gemeinsam mit meiner Kollegin Frau Begus habe ich untersucht, wie andere Betroffene und wir selbst mit schwierigsten persönlichen Problemen und Schicksalsschlägen fertig geworden sind. Wir haben zwölf „Resilienzfaktoren“ identifiziert, die einem persönlich in solchen Situationen helfen können. Es würde zu weit führen, sie hier im Einzelnen aufzuzählen und für jeden stehen andere Faktoren im Vordergrund. Beispielhaft seien hier nur drei erwähnt, die mir besonders helfen:
- 1. Für sich selbst sorgen, sich erlauben, trotzdem glücklich zu sein: Sich belohnen, Gutes für sich tun. (Faktor 5)
- 2. Hilfe durch soziale Kontakte: Sich mit Freunden treffen, sich gegenseitig unterstützen. (Faktor 6)
- 3. Aufgaben- oder zielorientiert sein: Sich einer interessanten Aufgabe widmen. (Faktor 9)
Diese und andere Resilienzfaktoren können helfen, aber nur wenn wir (leider weit verbreitete) Irrwege vermeiden.
Diese wären:
- Hassen (siehe oben),
- Gefühle und vor allem Mitgefühl (Empathie) unterdrücken,
- soziale Isolierung (oder Eintauchen in ein „Blase“ Gleichgesinnter),
- ausgiebiges Selbstmitleid oder
- in eine Sucht (Alkohol usw.) flüchten.
Wenn wir diese Sackgassen vermeiden, werden wir mit allen Krisen leichter fertig werden, als wir uns das vorstellen.
Aber es gibt noch einen anderen tröstenden Gedanken, den ich schon im letzten Blog angedeutet habe: Vielleicht befinden wir uns in eine Transformationsphase, in der sich Krisen zuspitzen, um dann zu völlig neuen Lösungen zu führen, die wir heute noch nicht einmal ahnen. Wie sagt doch Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Allerdings werde ich das wohl nicht mehr erleben, denn dazu sind Jahrzehnte erforderlich.
Ich wünsche Euch allen, liebe Leserinnen und Lesern, dass Ihr einen persönlich tröstenden, die Seele nicht belastenden Weg durch diese schweren Zeiten findet.
Euer Jens-Uwe Martens oder einfach:
Euer Uwe.