Dr. Jens-Uwe Martens

Persönlichkeits-Coach, Autor & Berater seit 1967

Spaltung der Gesellschaft?

„Das war es wohl!“ Mit diesen Worten, ohne ein „Auf Wiedersehen“ verließ ich die Wohnung meines Freundes, mit dem ich mich eigentlich zu einem Brettspiel verabredet hatte. Wir haben nicht gespielt, wir haben uns über den Krieg in der Ukraine unterhalten – nein, wir haben gestritten, so gestritten wie wir das in unserer jahrzehntelangen Freundschaft noch nie getan hatten. – „Das war es wohl!“, damit meinte ich das Ende dieser Freundschaft!

Es handelte sich nicht um irgendeiner meiner Freunde. Mit ihm war ich seit meiner Kindheit verbunden, wir hatten uns in der langen Zeit nie aus den Augen verloren und natürlich schon manchen Streit ausgefochten, aber eine solche Auseinandersetzung gab es noch nie. Ich war voller Verzweiflung, so voller wütender Gefühle, wie ich es von mir gar nicht kannte, als ich in den nächtlichen Straßen nachhause ging.

Sicher spielt die Tatsache dabei eine Rolle, dass ich jeden Tag von den Berichten über diesen Krieg immer sehr persönlich betroffen bin. Ich wurde während des zweiten Weltkrieges geboren und kann mich noch lebhaft an die den Klang der Sirenen erinnern und an die Nächte, die ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern in einem Luftschutzkeller verbracht habe. Auch wir waren damals aus dem Osten Deutschlands vor den Russen geflohen und natürliche kommen meine Gefühle wieder ins Bewusstsein, die ich damals erlebt habe, wenn ich heute die Berichte von den Fliehenden Ukrainern sehe: die Müdigkeit, die Angst, der Hunger und Durst auf den – wie mir damals schien – ewigen Wanderungen über staubige Landstraßen zu irgendwelchen Flüchtlingslagern. – Aber mein Freund ist im gleichen Jahr geboren!?

Worum ging es bei dem Streit?

Mein Freund ist der festen Überzeugung, dass Putin von „dem Westen“ in diesen Krieg gezwungen wurde, weil Putin sich von der Nato „umzingelt“ und bedroht fühlt. Amerika hätte die ehemaligen Sowjetrepubliken mit dem „raffinierten, geschickten Einflussnahme des CIA und mit vielen Milliarden“ zu Mitgliedern der Nato gemacht, entgegen den Vereinbarungen nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Das hatten die USA auch mit der Ukraine vor und das musste er unbedingt verhindern, bevor auch in der Ukraine Raketen stationiert worden wären, die Moskau und Russland bedrohten.

Mein Hinweis, dass nicht die USA die Länder in die Nato geholt hätten, sondern dass diese Länder selbstbestimmt in die Nato kommen wollten, weil sie Angst vor Russland hatten, ließ er nicht gelten. Das sei doch das Ergebnis der Einflussnahme der USA, bzw. des Westens.

Solange wir noch über die Einflussnahme des Westens auf die Länder wie Polen, den Baltischen Staaten, Slowenien und Ungarn usw. sprachen, war es eine interessante Diskussion. Mein Freund hatte ja zum Teil Recht. Man hatte Russland versprochen, dass die Nato nicht weiter an Russland heranrücken würde. Allerding wollte ich nicht glauben, dass das ein Werk des Westens war. Ich war überzeugt, dass das eine freie Entscheidung der Länder selbst sei, die nicht die besten Erfahrungen mit Russland gemacht hatten. Ich habe engeren Kontakt zu Georgien, das sich in einer ähnlichen Situation befindet wie die Ukraine. Auch Georgien möchte in die EU und in die NATO und ich konnte bei meinen vielen Gesprächen mit Georgiern und Georgierinnen keinen Einfluss der USA oder anderer europäischer Länder fesstellen.

Als wir dann allerdings auf den Angriffskrieg zu sprechen kamen, wurde es persönlich – zugegebenermaßen auch von meiner Seite. Mein Freund vertrat allen Ernstes die Überzeugung, dass Putin im Grunde ein Demokrat und Russland eine Demokratie sei, „mit etwas anderen Regeln“. Er sei immerhin gewählt und es gebe auch in Russland ein Parlament. Außerdem würde das russische Militär bei dieser Operation „zivile Opfer vermeiden“, hätte es nur auf die Zerstörung der militärischen Einrichtungen der Ukraine abgesehen.

Wenn ich Zeugen und Bilder aus dem Fernsehen und aus den deutschen und Schweizer Zeitungen erwähnte, die das Gegenteil bewiesen, weil sie ganze Städte zeigten, die zu Großteil zerstört sind und – soweit es die „Demokratie“ betrifft – Verhaftungen von friedlichen Demonstranten zeigten, so wies er darauf hin, dass ich „Opfer der gleichgeschalteten Propaganda des Westens“ sei. Das wären alles gefälschte Berichte, das würde man schon daran sehen, dass Putin es erlaubt habe, dass Nawalny aus der Haft heraus, seine Anhänger zum Protest aufgerufen hat. Und was die Vermeidung ziviler Opfer betrifft: „Die zeigen doch immer wieder die gleichen zerstörten Häuser, es gib offensichtlich nicht viele davon!“ Außerdem solle man das doch einmal mit den Zerstörungen vergleichen, die die USA im Irak-Krieg angerichtet haben.

Ich kann, und ich möchte hier nicht all die anderen Details aufzählen, in denen ich – nach Ansicht meines Freundes – falsch informiert bin. Er hätte Informationen, die das Gegenteil bewiesen.

Wenn ich darauf hinwies, dass wohl kaum Millionen von Ukrainern in den Westen geflüchtet wären, wenn wirklich nur militärische Ziele angegriffen wurden, erwähnt er immer wieder die Gräueltaten, die die USA in verschiedenen Kriegen verübt haben und dass auch die USA verhindert hätten, dass auf Kuba Atomraketen stationiert werden. Meine Frage, ob die Ukrainer jetzt die Süden der Amerikaner büßen müssen, tat er als „Fangfrage“ ab, auf die er nicht antworten müsse.

Ich war immer überzeugt, dass einer meiner herausragenden Eigenschaften Toleranz ist. Ich habe und hatte Freunde verschiedener Hautfarben und Religionen. War beruflich viel in Südafrika und habe dort sehr unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Ansichten kennengelernt und mich sehr gut mit ihnen verstanden.

Musste ich meinem Freund gegenüber nicht auch toleranter sein? Bin ich denn wirklich von der ununterbrochenen Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine so beeinflusst, dass ich meine Toleranz aufgegeben habe? Ist eine Freundschaft nicht mehr wert? Wie konnten solche Gefühle des Unverständnisses, der Aggression gegenüber meinem Freund entstehen? Bin ich wirklich ein Opfer westlicher Einflussnahme auf die Medien?

Ich lese immer wieder, dass die Russische Propaganda das Ziel hat, die Demokratien zu spalten und damit zu destabilisieren. Sie hat das schon während der Präsidentschafts-Wahlen in den USA getan. Der New York Times zufolge, arbeiteten zeitweise bis zu 15 000 Menschen daran, Fake-News zu produzieren und die westlichen Demokratien zu verunsichern und zu spalten. Ich habe schon vor Jahren mehrere Berichte davon gehört und gelesen, dass 2013 in St. Petersburg eine Agentur für Internet-Forschung gegründet wurde, die auch als Troll-Armee bekannt wurde. Waren mein Freund und ich ein Opfer dieser Einflussnahme der Russischen Trolle und der westlichen Propaganda? Sollte ich mehr Verständnis für die Position meines Freundes haben? Mein Verstand sagt: „Du darfst daran deine Freundschaft nicht scheitern lassen!“ mein Herz sagt: „Ein Freund, der diese Gräueltaten verteidigt, die uns täglich über die Medien ins Haus geliefert werden, kann nicht dein Freund sein!“

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