Was macht der Ukraine-Krieg mit uns?
Geht es uns nicht allen so: wir lassen uns von den Nachrichten in unserer Stimmung herunterziehen. Zwei Jahre Corona und jetzt auch noch der Einmarsch der Russen in die Ukraine. Wie kann man damit umgehen, ohne die Freude am Leben zu verlieren. Wie sollten uns auch die Bilder, die wir täglich im Fernsehen von zerbombten Häusern und flüchtenden Müttern mit ihren Kindern sehen, kalt lassen? Es wird uns doch immer wieder gesagt und bewusst: das alles spielt sich vor unserer Haustüre ab, mitten in Europa!
Ich bin 1940, mitten im 2. Weltkrieg geboren. Ich kann mich noch an die Sirenen und die Nächte in Luftschutzkellern erinnern. Meine Mutter erzählte mir, dass ich nach solchen Luftangriffen immer einige Zeit schlimm gestottert habe. Wir wohnten damals in einem Vorort östlich von Berlin, in der späteren DDR. Nach der Kapitulation floh unserer Familie vor der russischen Besatzung in den Westen. Wir hatten schreckliche Angst vor den Russen. Natürlich kommen die Erinnerungen von damals heute wieder in mir hoch.
An ein Bild kann ich mich noch besonders gut erinnern: Wir waren zu sechst, das sind meine Mutter und ihre fünf Kinder damals im Alter von 4 bis 17 Jahren. Unser Hab und Gut war auf dreizehn, meist kleinere Gepäckstücke verteilt, die unter uns Flüchtenden aufgeteilt wurden. Wir waren in einem überfüllten Zug aus Berlin herausgekommen und jetzt auf einer – wie es mir erschien – endlosen, staubigen, nicht geteerten Landstraße auf dem Weg in ein Flüchtlingslager. Mit uns bildeten etwa 50 bis 100 Leidensgenossen einen trostlosen Treck. Wir hatten Durst und Hunger. Der Proviant, den wir für die Reise eingepackt hatten, war längst aufgebraucht und wir waren entsetzlich müde. Immer wieder weinte ich oder meine Geschwister. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Die Sachen, die wir tragen mussten, waren uns zu schwer, wir wollten Pause machen, uns ausruhen, aber wir mussten weiter, wir hätten sonst den Anschluss verloren.
Endlich an dem riesigen Lagertor angekommen, erfuhren wir, dass das Lager überfüllt sei und man uns nicht mehr aufnehmen konnte. Die Aufregung war groß. Was sollten wir tun? Einer aus unserer Gruppe beschloss, dass wir ein nahestehendes Gut besetzen könnten. Wir verteilten uns in der Scheune des Bauernhofes. Ich machte es mir in dem Heu bequem, es roch phantastisch und ich vergaß fast meinen Hunger. Da kam der Bauer mit einem Gewehr und schimpfte entsetzlich. Ich hatte riesige Angst. Aber als der Bauer erkannte, wie viele Flüchtlinge in seiner Scheune Unterschlupf gesucht hatten, entschied er sich zum Rückzug. Wir blieben.
Am nächsten Tag zogen wir in die Zelte des Flüchtlingslagers um und bekamen auch etwas zu Essen. Ich kann mich erinnern, wie gut das Stück Fleisch schmeckte, das in einem riesigen Kessel gekocht wurde. Wenn mich meine Erinnerungsbilder nicht täuschen, war es eine riesige Pferdekeule. Nie mehr hat mir Fleisch so gut geschmeckt.
All diese Erinnerungen habe ich lebhaft vor Augen, wenn ich heute von den Flüchtlingen aus der Ukraine lese oder die Bilder im Fernsehen betrachte.
Natürlich macht mir das Alles Angst. Werde ich zum Ende meines Lebens, so wie zu Beginn, Krieg und Not erleben müssen?
Allerdings habe ich mich in meinem bisherigen Leben mit extrem schrecklichen Erlebnissen auseinandersetzen müssen und ich habe an meinem eigenen Schicksal erlebt, dass wir „geheime Kräfte“ in unserer Seele besitzen und dass die Not in unserer Vorstellung meist noch schlimmer ist, als in der Realität.
Unsere Angst macht die Bilder von dem, was passieren könnte, noch grauenhaften: Das ist eine gewagte These und ich kann verstehen, wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, Gefühle der Skepsis beim Lesen dieser Zeilen empfinden. Wie komme ich zu diesen Aussagen?
Bei der Recherche zu einem Buch über Resilienz, das ich zusammen mit meiner Kollegin Birgit Begus geschrieben habe, entdeckten wir Menschen, die die schlimmsten Schicksalsschläge in einer bewundernswerten Weise verarbeitet oder überwunden haben. Schicksalsschläge von denen wir uns nicht vorstellen konnten, dass man sie überhaupt durchstehen kann.
Um das nur an einem Beispiel zu konkretisieren, möchte ich den berühmten Physiker Steven Hawking erwähnen, der durch eine Krankheit die Fähigkeit verloren hat, irgendeinen Muskel seines Körpers zu bewegen. Er war die meiste Zeit seines Lebens 24 Stunden am Tag auf die Pflege von außen angewiesen – und er hat trotzdem ein erfülltes Leben geführt. Er hat sich auf das Denken verlegt und das Universum erforschte. Auf die Frage eines Reporters, einige Jahre vor seinem Tod, wann er glücklicher war, in der Zeit als Student, als er noch gesund war oder heute, antwortete er spontan: „Natürlich heute!“
Dies ist nur ein Beispiel für solche Giganten der Resilienz, wie ich sie nennen möchte. Natürlich hat uns interessiert, warum die Betroffenen zu solchen Leistungen fähig waren, wie man sie erklären kann. Wir haben bei unseren Recherchen zwölf „Resilienz-Faktoren“ entdeckt, psychologische Techniken oder Strategien, mit denen es diesen Menschen gelungen ist, schwerste Krisen und Schicksale durchzustehen.
Diese „Resilienz-Faktoren“ können uns auch bei den negativen Gefühlen helfen, die durch die Ukraine-Krise oder bei der Corona-Pandemie entstehen. Natürlich können sie nicht die Bedrohung beseitigen, aber sie können helfen, dass unser Leben dadurch nicht in dunkle Farben getaucht wird. Bereits im dritten Jahr schwebt über uns eine unsichtbare Bedrohung, der wir – realistisch betrachtet – letztlich nicht ausweichen können, die uns jeden Tag begegnet und unser Bewusstsein ausfüllt, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können.
Diese beiden Ereignisse haben in vielen von uns nicht nur Angst im herkömmlichen Sinn ausgelöst, sondern ein Gefühl der Beklemmung, eine vage Befürchtung, die langsam zum Dauerzustand geworden ist. Die amerikanische Psychologie nennt das „anxiety“. Sie kann dazu führen, dass wir nicht mehr froh werden können. Man könnte von einer kollektiven Depression sprechen.
Nicht jeder Resilienz-Faktor ist für jeden Menschen und für jede Situation geeignet, aber das ist auch nicht notwendig. Ich behaupte, dass für jeden der eine oder andere Resilienz-Faktor hilfreich sein kann – wenn man auf der anderen Seite ein paar Irrwege und Sackgassen vermeidet, die sich in solchen Krisen anbieten, aber letztlich schädlich sind und die Situation nur verschlimmern.
Folgende Resilienz-Faktoren halte ich für besonders geeignet, in der jetzigen Situation zu helfen (unter den Begriffen in Klammern, finden sie die Resilienz-Faktoren in dem erwähnten Buch):
- Sich selbst erkennen: Worauf beruht die Angst in uns, welcher Erlebnishintergrund wird aktiviert? Wird die Angst durch die Erinnerungen unverhältnismäßig verstärkt?
- Aktiv werden (aufgaben- und zielorientiert sein): Seinen Gefühlen der Ohnmacht entgegenwirken, zum Beispiel anderen Menschen wie den Flüchtlingen helfen.
- Sich mit der Situation auseinandersetzen („Trauerarbeit“ leisten): Mit anderen darüber reden oder schreiben, aber darin nicht steckenbleiben: Sich auch wieder anderen wichtigen Aufgaben zuwenden, sich ablenken.
- Eine optimale Einstellung zum eigenen Schicksal und zu der Bedrohung finden: Sich bewusst machen, wie gut es uns trotz allem geht, wenn wir uns mit den Menschen in anderen Ländern oder anderen Zeiten vergleichen. Eine „Worst-Case-Szenario“ entwickeln.
- Hilfe durch soziale Kontakte suchen: Sich mit Menschen umgeben, die gelassen auf die Bedrohung reagieren, die sich nicht ängstigen lassen.
- Vertrauen auf ein höheres Wesen: Sich übernatürlichen Interpretationen überlassen, sich dem Glauben zuwenden, beten.
Das sind sechs der erwähnten 12 Resilienzfaktoren, die meiner eigenen Erfahrung nach in der jetzigen Situation helfen können. Allerdings gehört auch dazu, dass man Irrwege und Sackgassen vermeidet, die sich häufig anbieten, aber langfristig die eigene Situation noch verschlechtern:
- Sich mit Drogen wie Alkohol oder anderen betäuben und damit letztlich in die Sucht flüchten.
- Sich langzeitig sozial isolieren, abkapseln, indem man den Umgang mit anderen vermeidet oder sich abstrusen Verschwörungstheorien hingibt und dadurch nur noch mit „Eingeweihten“ Kontakt hat.
- Die Probleme verdrängen, die Bedrohung leugnen, sie nicht wahrhaben wollen.
- Hassen, die eigene Frustration in Aggression umwandeln, die sich auf einen beliebigen Gegner orientiert.Ausgiebiges Selbstmitleid, sich bedauern, jammern.
Natürlich ist der Umgang mit der Krise, die wir aktuell erleben, so vielfältig, wie es wir Menschen sind. Jeder muss seinen eigenen Weg finden und hier konnte ich nur ein paar Anregungen geben. Ausführlichere Beschreibung der Resilienz-Faktoren und der Sackgassen kann man in unserem Buch „Das Geheimnis seelischer Kraft. Wie Sie durch Resilienz Schicksalsschläge und Krisen überwinden“ von Jens-Uwe Martens und Birgit M. Begus finden.