Dr. Jens-Uwe Martens

Persönlichkeits-Coach, Autor & Berater seit 1967

Über Missbrauch

Die letzten zwei Blogs hatten die Zukunft von Deutschland zum Thema. Leider stimmten fast alle, die darauf geantwortet haben, meiner pessimistischen Haltung zu. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wenigstens einige meiner Leser mir widersprechen. Lasst uns hoffen, dass wir „nur“ eine Krise durchleben, wobei in einer Krise immer auch eine Chance liegt, oft stellt sie den Beginn von positiven Veränderungen dar.

Heute drängt es mich, ein Thema aufzugreifen, das mich schon lange umtreibt, und das durch die kürzlich veröffentlichten Zahlen in der Schweiz neue Aktualität bekommen hat: Es geht um Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Vertreter der Kirche, eigentlich geht es um die Verharmlosung von sexuellem Missbrauch allgemein.

In Kommentaren zu diesen neuen Zahlen (aber auch schon weiter zurückliebenden Erfahrungen) bin ich immer wieder der Meinung begegnet, dass sexueller Missbrauch doch gar nicht so schlimm sei, dass man darum kein so großes Aufheben machen sollte. Ich greife nur drei selbst erlebte besonders gravierende Erlebnisse und Kommentare heraus:

  1. 1. Von einem Priester hörte ich vor einiger Zeit die von der Kanzel geäußerte Meinung, dass man doch Verständnis für die Kollegen haben sollte, die sich so eines Vergehens schuldig gemacht haben, da sie heutzutage doch häufig mehr als eine Gemeinde zu betreuen haben und dabei sehr unter Stress geraten.
  2. 2. In einen schriftlichen Kommentar musste ich kürzlich lesen, dass es doch nicht so schlimm sein kann, wenn man mit einem Jugendlichen zusammen onaniert und mehr sei es oft doch oft gar nicht geschehen.
  3. 3. In einer Verteidigungsrede eines Beschuldigten argumentierte dieser, dass er nie Gewalt angewandt hatte, dass alle Handlungen „einvernehmlich“ geschehen sind und er doch eigentlich unschuldig sei.

In allen drei Fällen und in vielen Vergleichbaren gehen die Autoren offensichtlich davon aus, dass sexuelle Handlungen von prestigebehafteten Erwachsenen mit den ihnen anvertrauten Jugendlichen „nur“ eine moralische Dimension haben. „Man tut so etwas nicht, darüber sind sich alle einig, aber so etwas ist doch nicht mit einem echten kriminellen Delikt vergleichbar!“ Oft wird sexueller Missbrauch mit Pädophilie und Homosexualität gleichgesetzt.

Liebe Leser, ich bin überzeugt, dass Ihr selbst vergleichbaren Äußerungen begegnet seid und ich es mir daher ersparen kann, diese Haltung näher auszuführen.

Als psychologischer Coach und Berater kommen immer wieder Menschen zu mir, die in ihrer Jugend Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Oft sind es Dreißig- oder Vierzigjährige, die immer noch darunter leiden, was man ihnen angetan hat – wobei in den Fällen, die zu mir gekommen sind, niemals körperliche Gewalt eine Rolle gespielt hat.

„Was war denn dann so schlimm?“, fragen sich sicher viele, die von Missbrauchsfällen und ihrem Umgang damit lesen.

Es gibt Missbrauch in unterschiedlichster Form. Ich spreche hier von den Fällen, die ich in meiner Beratungspraxis besonders häufig erlebt habe, und die wohl die Personen im Kopf haben, die obige Kommentare abgegeben haben und die sie als „harmlos“ bezeichnen.

Wenn ein Jugendlicher oder eine Jugendliche in die Pubertät kommt, besteht die wichtigste psychologische Entwicklungsaufgabe für diese Person darin, ein positives, konsistentes Selbstbild zu entwickeln. Dabei spielt die Sexualität eine wichtige Rolle. Im Idealfall erlebt der junge Mensch die in ihm auftauchenden, zunächst fremd und unheimlich anfühlenden sexuellen Bedürfnisse in Verbindung mit einem Partner, zu dem dieser auch eine enge seelische Verbindung eingeht, beide sind ineinander „verliebt“. Die ersten Erlebnisse, die dieser Mensch hinsichtlich seiner Sexualität hat, sind dabei meist prägend, oft bestimmend für das ganze weitere Leben.

Wenn es nun einem geschickten Erwachsenen, von dem der oder die Jugendliche auch noch abhängig ist, gelingt, die sexuellen Bedürfnisse des unerfahrenen Kindes (oder Jugendlichen) anzusprechen und mit ihm sexuelle Handlungen zu vollziehen, so kann dieser in der Entwicklung befindliche Mensch sich nicht dagegen wehren, weil er ja gar keine Erfahrung hat. Andererseits empfinden viele dieser jungen Menschen ihre Handlungen auf denen der sexuelle Missbrauch beruht, im Nachhinein, wenn die sexuelle Erregung abgeklungen ist, als schmutzig, peinlich, oft höre ich Worte wie „ekelhaft und abscheulich“ (ein Betroffener hat mir erzählt, er musste sich übergeben). Darüber hinaus fühlen sich viele Betroffene gleichzeitig schuldig, denn sie haben sich ja nicht gewehrt und haben vielleicht sogar Lust empfunden.

Die Konsequenz ist oft die, dass ein solcher Missbrauch von dem Betroffenen vollkommen verdrängt, „vergessen“ wird. Das heißt aber nicht, dass diese prägenden Erlebnisse sich nicht auf späteres Erleben und Verhalten auswirken. Seit Freud wissen wir, dass auch und besonders verdrängte Traumata die Seele und damit das Verhalten aber auch die Selbstkonzepte negativ beeinflussen.

Bei besonders sensiblen Opfern kann es dazu führen, dass diese die belastenden Erlebnisse nicht in ihr Selbstbild integrieren können und es ihnen nicht gelingt, ein konsistentes Selbstbild zu entwickeln. Sie fühlen sich dann auch als Erwachsene so, als ob sie immer eine Rolle spielen, einem fremden Drehbuch folgen und immer nur den Erwartungen ihrer Umwelt entsprechen, aber nie „sie selbst sind“. Viele von ihnen werden nie behandelt, weil sie nicht „auffällig“ werden und leiden darunter ihr ganzes Leben.

Andere Opfer klagen „nur“ darüber, dass sie Sexualität nicht genießen können, dass sie immer „im Hinterkopf“ mit Schuldgefühlen oder „etwas Schmutzigem“ verbinden, oder dass sie sexuelle Vorlieben entwickelt haben, die ihnen oder dem Partner fremd erscheinen und eine erfüllte sexuelle Erfahrung unmöglich machen.

Allen Opfern gemeinsam ist, dass sie in ihrer natürlichen Entwicklung behindert werden und durch den Missbrauch psychische Verletzungen erleiden, die oft langwieriger und schlimmer zu ertragen sind, als eine schwere körperliche Verletzung. Es geht nicht um eine Moral, die verletzt wurde, sondern es geht um einen Jugendlichen in einer besonders verletzlichen Phase, der unter dem, was ihm angetan wird, u. U. sein ganzes Leben leidet. (Natürlich kommen zu mir nur die Opfer, die darunter leiden. Ich möchte nicht ausschließen, dass es Opfer von sexuellem Missbrauch gibt, die damit selbst ohne bleibenden Schaden und ohne psychische Betreuung fertig werden. Eine belastbare, wissenschaftliche Untersuchung, wieviel Prozent einen wie großen Schaden unter welcher Form von sexuellem Missbrauch erleiden, gibt es meines Wissens nicht. Aber die Tatsache, dass bei manchen Menschen die Wunden besser heilen, als bei anderen, sollte bei der Feststellung der Schuld des Täters keine Rolle spielen.)

Die Täter, begehen einen besonders schweren Fall von „Seelen-Verletzung“ gegenüber wehrlosen Abhängigen. Menschen, die das tun, müssten sich vor einem ordentlichen Gericht verantworten, so wie es Menschen tun müssen, die eine schwere Form von Körperverletzung mit Langzeitfolgen begangen haben.

Wir sind alle aufgerufen, einer Verharmlosung von sexuellem Missbrauch, oder gar einer Vertuschung mit aller Härte entgegenzutreten und dafür zu sorgen, dass die wehrlosen Jugendlichen geschützt werden.

Herzliche Grüße

Jens-Uwe Martens.

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