Wo sind die beflügelnden, motivierenden Ideen geblieben?
Wenn ich die Zeitungen überfliege oder die aktuellen Fernsehbeiträge ansehe, habe ich den Eindruck, dass wir uns nur noch um unser kleines persönliches Glück kümmern, dass wir Angst um unsere Gesundheit haben (Corona) oder befürchten, dass wir im kommenden Winter frieren könnten (Ukraine bzw. Energie-Krise) oder uns etwas weniger leisten könnten (Inflation). Haben wir all unsere Ideale verloren? Haben wir keine anderen Sorgen als die, ein wenig von unserem Wohlstand zu verlieren?
Als jemand, der im Krieg geboren wurde,
- der mangelnde ärztlich Versorgung erlebt hat,
- der sich gut daran erinnern kann, dass nur ein Raum in der Wohnung notdürftig (oft mit Holz, das man am Tag gesammelt hat) geheizt wurde und wir einen am Ofen gewärmten Ziegelstein ins Bett legten, damit es nicht ganz so kalt ist, wenn man unter die Decke huschte,
- der die Zeiten der Nahrungsknappheit und der Lebensmittelkarten noch lebhaft vor Augen hat,
kann ich diese Ängste vielleicht nicht ganz so nachempfinden, wie die, die noch nie Not erlebt haben.
Ich kann mich allerdings auch noch gut an die Diskussionen meiner Eltern und deren Freunde und Bekannte aus der Nachkriegszeit erinnern, in denen es nicht nur — noch nicht einmal primär — darum ging, wie wir den nächsten Tag oder die nächste Woche organisieren könnten, sondern auch der unbedingte Wille zu spüren war, nach dem materiellen und moralischen Zusammenbruch Deutschlands einen neuen Staat aufzubauen, der die Gewähr bietet, dass sich so etwas wie die Katastrophe des „Dritten Reiches“ nie wiederholen kann. Man wollte individuelle Freiheit, Toleranz, eine funktionierende Demokratie und natürlich auch Wohlstand für möglichst alle realisieren. Ich kann mich an die Ideale erinnern, nach denen sich die meisten Unternehmer und politisch aktiven Personen ausgerichtet haben. Nicht immer gab es Einigkeit über die Mittel, wie man diese Ziele erreichen kann, aber hinsichtlich der Ziele war man sich weitgehend einig.
Heute kann ich solche übergreifenden Idealziele nicht mehr ausmachen. Selbst das Ziel, den Klimawandel aufzuhalten, wird bereitwillig zurückgestellt, wenn eine kalte Wohnung droht. Wir werden wohl die verteufelte (Braun-)Kohle noch ziemlich lange verheizen. Das Ziel des Einzelnen und der Politiker scheint sich nur noch um das materielle Wohlergehen in den nächsten Wochen und Monaten zu drehen, wir haben Angst ein wenig von dem erreichten Wohlstand einzubüßen und die Politik hat Angst, dass wir dann zu den radikalen politischen Rattenfängern, den Populisten überlaufen könnten, die nur auf solche „Krisen“ warten.
Dabei ist es gerade die Angst, die uns die öffentlichen Medien und die Politik einzureden versucht, die uns gegenüber extremen Ideen anfällig macht. Angst erzeugt Enge, auch im Denken und in der Vorstellung. Was wir brauchen, sind beflügelnde Werte, Ideen, für die wir gerne Opfer bringen. Wenn unser Denken und Handeln, das des Einzelnen und das der Politiker, nur noch an materiellem Wohlstand ausgerichtet ist, dann sind wir anfällig gegenüber Idee wie Nationalismus, Intoleranz usw. Dann sind wir anfällig, für Verführer, die uns weiszumachen versuchen, dass sie den Schuldigen für unser „Unglück“ und den anscheinend einfachen Weg heraus aus der Maläse gefunden haben.
Das ist die Angst, die ich habe. Könnte es sein, dass sich die Geschichte nach nur ca. 80 oder 100 Jahren wiederholt?
Wo bleiben die charismatischen Politiker, die uns aufzeigen, dass Deutschland sich tatsächlich zu einer toleranten, freiheitlichen Demokratie gewandelt hat, ein Land, das mit solchen „Krisen“, wie sie (vielleicht) vor uns liegen, leicht fertig wird, weil wir viel Schlimmeres überstanden haben, und dass wir deshalb unsere Ideale, die wir nach der schlimmen Vergangenheit entwickelt haben, nicht über Bord werfen werden. Deutschland ist in meinen Augen immer noch ein freiheitliches, tolerantes, kreatives und starkes Land, in dem alle Menschen, die unsere Werte teilen, willkommen sind und ihre Chance bekommen und das die Kraft hat, die vielleicht vor uns liegenden materiellen Krisen zu überstehen.
Ich wünsche Allen, die das lesen, dass sie sich nicht von den Angstmachern anstecken lassen und dass die Einbußen, die sie schon erleiden oder erleiden werden nicht so gravierend ausfallen.